#Arbeits- und Sozialpolitik in türkis-rot-pink (II): Letztes soziales Netz vor Zerreißprobe

Das Flickwerk Sozialhilfe steht – geht es nach der neuen Regierung – vor einer grundlegenden Reform. Und die ist eine Gratwanderung: Zwischen Gipfel und Totalabsturz ist alles drinnen. Einige Vorschläge haben es nämlich ziemlich in sich. Würden sie umgesetzt, drohen weitere Löcher ins soziale Netz gerissen zu werden.

Aber beginnen wir beim Begrüßenswerten: Das Leistungsniveau soll bundesweit auf Höhe des Nettobetrags der Ausgleichszulage – also der haushaltsbezogenen „Mindestpension“ – vereinheitlicht werden. Der „Fleckerlteppich“ Sozialhilfe also zumindest hier übersichtlicher werden. Das heißt auch, dass die Sozialhilfe weiterhin mit der Ausgleichszulage steigt. Im Rahmen der blau-schwarzen Verhandlungen stand ja selbst dieses Prinzip durchaus zur Disposition, wollten ÖVP und FPÖ die Sozialhilfe doch etwa von der Ausgleichszulage entkoppeln.

Weniger begrüßenswert: Trotzdem könnte sich die Sozialhilfe reduzieren, denn mit der Anhebung des Krankenversicherungsbeitrags für Pensionist:innen droht auch die Netto-Ausgleichszulage um knapp 12 Euro monatlich zu sinken. Ob für die Mindestpension – also das Existenzminimum – in Sachen Krankenversicherungsbeiträge eine Ausnahme geplant ist, ist bislang nicht bekannt.

Ebenfalls begrüßenswert: die Vermögenverwertung bei bestimmten Gruppen – wie etwa Menschen mit Behinderung – soll neu, sprich großzügiger – geregelt werden. Laut Regierungsprogramm sollen die Varianten von einer Reduktion bis zur Nichtanrechnung reichen.

Damit war’s dann allerdings auch schon mit dem erfreulichen Part. Kommen wir zu jenen Teilen der Reform, die eine sozialpolitische Gratwanderung darstellen und aktuell mehr Fragen offen lassen als sozialpolitisch befriedigende Antworten zu geben.

Sozialhilfe ins AMS – überlegenswert, ABER ….

Die Sozialhilfe für arbeitsfähige Sozialhilfebezieher:innen soll künftig über das AMS abgewickelt werden. Sozialhilfebezieher:innen sind damit künftig vollständig in das AMS-Vermittlungsregime – inklusive Sanktionen, Schulungsmaßnahmen, Sperren, Kursangebote etc. – einbezogen. Die Integration von arbeitsfähigen SH-Bezieher:innen in das AMS erscheint durchaus sinnvoll und würde auch so manche Schnittstellenproblematik beheben. Es folgt allerdings ein großes ABER: Gerade Sozialhilfebezieher:innen sind vielfach mit mehreren, gleichzeitig auftretenden Problemlagen konfrontiert – Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit, gesundheitliche bzw. psychische Beeinträchtigungen, Überschuldung, Suchterkrankung, familiäre Schwierigkeiten … Das braucht eine spezifische Begleitung, Betreuung und Unterstützung bei der Bewältigung dieser Probleme, bevor überhaupt an eine erfolgreiche Jobvermittlung zu denken ist. Wer grundsätzlich arbeitsfähig ist, muss deswegen längst nicht kurzfristig in der Lage sein, einen Job anzunehmen. Da helfen keine Sanktionen, da hilft kein Druck. Die würden das persönliche Elend nur verstärken. Das gilt es zu berücksichtigen. Von diesen notwendigen Hilfs- und Unterstützungsangeboten steht im Regierungsprogramm allerdings nichts.

Kinderrichtsätze bei Sozialhilfe – abgeschafft!

Was künftig ganz wegfallen soll: Die Kinderrichtsätze bei der Sozialhilfe. Das wäre an sich nur logisch, wenn es denn eine Kindergrundsicherung gäbe, die diesen Namen verdient. Die gibt es allerdings abseits von Willenserklärungen und Überschriften nicht. Was dafür kommen soll, sind erhöhte Familienzuschläge zum Arbeitslosengeld, auch für Sozialhilfebezieher:innen. Tatsächlich stellt das eine eklatante Kürzung der bisherigen Sozialhilfe für Kinder dar. Und die dürfte noch größer ausfallen, soll doch künftig die Familienbeihilfe auf die Sozialhilfe angerechnet werden. In welchem Umfang, in welchem Ausmaß, ob dann überhaupt noch irgendwas von den Familienzuschlägen bleibt – Fragen über Fragen, die unbeantwortet, für Betroffene allerdings wesentlich sind. Beitrag zur Bekämpfung der Kinderarmut ist das jedenfalls keiner.

Wartefrist für Sozialhilfebezieher:innen

Kommen wir zu einem besonders heiklen Punkt: Für Sozialhilfe-Bezieher:innen wird eine Wartefrist angedacht – analog zum Arbeitslosengeld. Für Inländer:innen. Für Zuwander:innen soll diese nämlich bis zu drei (!) Jahre betragen. Für Zuwander:innen wird nämlich eine ein bis Jahre dauernde „Integrationsphase“ eingeführt, Betroffene in diesem Zeitraum eine unterhalb der Sozialhilfe liegende „Integrationsbeihilfe“ erhalten. Eine Aufstockung im Bedarfsfall soll nicht möglich sein. Derartige Wartefristen sind aus mehreren Gründen abzulehnen. Fangen wir mit der Wartefrist „analog zum Arbeitslosengeld“ an: Bei der Sozialhilfe handelt es sich im Unterschied zum Arbeitslosengeld um keine Versicherungsleistung, sondern um eine Sozialleistung – das letzte soziale Netz, das einen völligen sozialen Absturz verhindern soll, wenn kein sonstiges Einkommen – wie Lohneinkommen oder Arbeitslosengeld – vorliegt. Was passiert also mit (inländischen) Arbeitnehmer:innen, die keinen ALG-Anspruch haben, aber ihren Job verlieren? „Young-Moms“, junge Menschen mit schwerer Behinderung, jobbende Schulabbrecher:innen, befristet Beschäftigte … – sie würden dann künftig vor dem Nichts stehen, weil sie mangels Anspruch auf Arbeitslosengeld auch keinen Anspruch auf Sozialhilfe mehr hätten. Ein wenig durchdachtes Konzept. Armutsbeschleunigend statt armutsvermindernd. Aber Armutsbekämpfung spielt im türkis-rot-pinken Regierungsprogramm ohnehin nur eine untergeordnete Rolle.

Aus dem ÖVP-SPÖ-NEOS Regierungsprogramm, S 98

Jede Menge Unklarheiten bei Zuwander:innen

Inwieweit eine unterhalb der Sozialhilfe liegende „Integrationsbeihilfe“, die auch nicht aufgestockt werden kann, für z.B. Asylberechtigte, die rechtlich mit Staats- und EU-Bürger:innen gleichzusetzen sind, überhaupt zulässig ist, ist eine weitere Frage. So sinnvoll, richtig und wichtig die vorgesehene Integrationsphase ist – hier sollen Deutschkurse, Wertekurse und eine Heranführung an den Arbeitsmarkt stattfinden -, so wichtig ist auch die finanzielle Absicherung in dieser Phase. Völlig unklar ist auch, wem diese „Integrationsbeihilfe“ überhaupt zusteht. Bereits Asylwerber:innen? Das käme teurer als die bisherige Grundversorgung. Erst Asylberechtigten? Da hätten wir das Problem der rechtlichen Ungleichbehandlung. Subsidiär Schutzberechtigten? Auch die sind überwiegend in der Grundversorgung (Ausnahme Wien). Jede Menge Unklarheiten. Jede Menge Fragen bei fehlenden Antworten. Vermutlich, weil sich die verhandelnden Parteien selbst nicht einig waren …

Totalreform bleibt (bislang) aus

Ob es für eine Totalreform eine Verfassungsmehrheit – bislang ist die Sozialhilfe ja Ländersache – braucht, oder eine 15 a Vereinbarung zwischen Bund und Ländern reicht, wird am Umfang und Charakter der Reform liegen. Für eine Totalreform bleibt sie auf halber Strecke stehen: Denn wenn arbeitsfähige Sozialhilfebezieher:innen in die Arbeitslosenversicherung sollen, warum dann nicht konsequenterweise auch nicht-arbeitsfähige, gesundheitlich Beeinträchtigte bzw. Menschen mit Behinderung in die Pensionsversicherung mit ihren Reha-Angeboten? Warum sollen diese Menschen bei den Ländern bleiben? Und wie hat sich bis dahin die Kindergrundsicherung unabhängig von Willensbekundungen und Überschriften entwickelt?

Zusammenfassend: Unter grüner Regierungsbeteiligung wurden der schwarz-blauen Sozialhilfe wesentliche Giftzähne gezogen. Im neuen Regierungsprogramm ist dagegen eine Reform geplant, die Risiken massiver Verschlechterungen in sich birgt. Das Regierungsprogramm ist unklar und widersprüchlich, es bleiben mehr Fragen offen als beantwortet werden. Das zentrale Ziel einer funktionierenden Sozialhilfe,  nämlich die Armutsbekämpfung, bleibt – man möchte fast sagen bezeichnenderweise – weitgehend unerwähnt. Keine guten Voraussetzungen für eine Sozialhilfe NEU, die diesen Namen auch verdient.

Teil I: Arbeitsmarkt

Teil III: Kindergrundsicherung

Teil IV: Pensionen