#Sozialhilfe/Mindestsicherung: Fakt oder Fake?

Sie ist auch heuer wieder da: Die Sommerlochdebatte rund um die Mindestsicherung. Einmal mehr ist das Thema die Höhe, einmal mehr geht es um Flüchtlingsfamilie(n) mit vielen Kindern. Ein gefundenes Fressen in Vorwahlzeiten. Empörung, Unverständnis überall, die Wogen gehen hoch. Bei so viel Emotionen tut eine Versachlichung not. Und vor allem auch eine Debatte darüber, was das berühmte „letzte soziale Netz“ eigentlich können soll, können muss und wo es aktuell besonders fehlt. Und warum es eine „Mindestsicherung neu“ braucht und die türkis-blaue Sozialhilfe weg gehört.

Gut. Starten wir mit der Versachlichung. Starten wir mit einem Faktencheck. Und gängigen Behauptungen über Sozialhilfe (SH) und Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS). Was ist Fakt? Was ist Fake?

Behauptung 1: Die Sozialhilfe-Zahlen explodieren! Immer mehr Menschen beziehen Mindestsicherung.

Diese Behauptung ist ein Fake. Fakt ist: Die Zahl der SH/BMS-Bezieher:innen ist seit Jahren rückläufig. Bezogen 2017 noch 239.481 Menschen SH bzw. BMS waren es 2022 – aus diesem Jahr stammt die letzte Sozialhilfestatistik – 189.957 Personen. Auch in Wien ist die Anzahl der Bezieher:innen zwischen 2017 und 2022 um 11 Prozent bzw. von 150.150  auf 134.303  gesunken.

Behauptung 2: Wer nach Österreich kommt, bekommt sofort Sozialhilfe. Wir brauchen dringend eine Wartefrist!

Eine sehr beliebte und häufige Behauptung. Aber Fake. Die Fakten sehen anders aus:

    • EU- und EWR-Bürger:innen haben nur dann Anspruch auf SH/BMS, wenn sie sich entweder als Arbeitnehmer:innen in Österreich aufhalten oder schon länger als fünf Jahre hier wohnen – de facto eine Wartefrist.
    • Für Drittstaatsangehörige gilt diese fünfjährige Wartefrist generell. Anspruch auf SH/BMS hat nur, wer zumindest 5 Jahre rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich gehabt hat.
    • Asylwerber:innen haben KEINEN Anspruch auf SH und BMS. Erst wenn der Asylstatus zuerkannt wird, besteht Anspruch auf SH bzw. BMS. Asylberechtigte sind rechtlich Inländer:innen gleichgestellt.

Behauptung 3: Sozialhilfe und Mindestsicherung sind so hoch, dass sich Arbeit nicht mehr lohnt! Bei der Höhe will ja keiner mehr arbeiten gehen.

Diese Behauptung verlangt eine etwas ausführlichere Antwort:

    • Zuallererst: die Mehrheit der SH/BMS-Bezieher:innen sind sog. „Aufstocker:innen“. Sie erhalten nicht die volle SH/BMS, sondern nur einen Teil, weil sie noch ein anderes Einkommen – Arbeitslosengeld, Unterhalt, ein geringes Arbeitseinkommen etc. – beziehen. Bundesweit sind 72 Prozent jener Haushalte („Bedarfsgemeinschaften“), die SH/BMS beziehen, „Aufstocker:innen“, in Wien sogar 76 Prozent. Nur eine Minderheit der Bedarfsgemeinschaften bezieht also die volle Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung.
    • Ebenfalls Fakt: Fast die Hälfte – nämlich 42 Prozent – der Bezieher:innen von SH/BMS können gar nicht arbeiten, weil sie entweder Kinder oder Pensionist:innen sind. Dazu kommen noch all jene, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, weil sie gesundheitsbedingt oder aufgrund einer Behinderung arbeitsunfähig sind, oder Betreuungspflichten haben, die eine Erwerbstätigkeit verunmöglichen. In Summe beträgt der Anteil all derjenigen, die nicht arbeiten können bzw. müssen (Kinder, Pensionist:innen) rund 57 Prozent. Einer Arbeit nachzugehen ist also weniger eine Frage des „Wollens“ als des „Könnens“ (Krankheit, Behinderung, Betreuungspflichten) bzw. „Müssens“ (Pensionist:in, Kind).

    • Im Umkehrschluss heißt das: Weniger als die Hälfte aller Menschen in SH oder BMS stehen überhaupt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, könnten also einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder arbeiten ohnedies, verdienen aber (zu) wenig. Von jenen rund 43 Prozent SH/BMS-Bezieher:innen sind 9 Prozent erwerbstätig, verdienen allerdings so wenig, dass sie aufstocken müssen. Bleiben also 34 Prozent tatsächlich arbeitslose aber arbeitsfähige Menschen – unter ihnen allerdings auch jene, die Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe um SH bzw. BMS aufstocken, die also eine Versicherungsleistung beziehen, voll in die Vermittlungs- und Schulungsmaßnahmen und damit auch in das Sanktionenregime des AMS einbezogen sind. Das reduziert noch einmal die Anzahl „reiner“ SH-/BMS-Bezieher:innen deutlich.
    • Auch all jene Personen, die „reine“ SH-/BMS-Bezieher:innen sind, müssen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wer die Annahme einer zumutbaren Arbeit verweigert, dem/der kann die Leistung gekürzt werden. Das traf 2022 auf knapp über 1.900 Personen zu.
    • Wie bereits erwähnt: Haushalte, die SH oder BMS beziehen (Bedarfsgemeinschaften), sind mehrheitliche „Aufstocker:innen“. Die durchschnittliche Höhe der bezogenen SH bzw. BMS liegt damit regelmäßig unter dem Höchstsatz. Tatsächlich betrug die durchschnittliche monatliche Leistungshöhe 2022 je Bedarfsgemeinschaft gerade einmal 741 Euro/Monat – also weit entfernt von den wenigen „Ausreißern“, über die in  letzten Tagen  öffentlich diskutiert wurde.

Behauptung 4: Ja, das mag theoretisch vielleicht stimmen. In der Praxis machen sich die Betroffenen allerdings ein feines Leben. Wer arbeitet, ist da doch der Trottel!

Zuallererst: Mit 1.155,84 Euro/Monat liegt die aktuelle SH/BMS für Alleinstehende deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.572 Euro monatlich. Ein feines Leben lässt sich damit nur schwer machen. Armut effektiv bekämpfen übrigens auch nicht.

Im Unterschied zu Löhnen oder Gehältern werden SH oder BMS auch 12 x statt 14 x ausbezahlt. Diese Tatsache wird oft ausgeblendet. Die meisten kollektivvertraglichen Mindestlöhne (Vollzeit) liegen dabei bereits bei 1.700 Euro brutto/Monat. Das entspricht – auf zwölf Monate heruntergerechnet – einem Netto-Betrag von 1.640 Euro und liegt damit monatlich rund 485 über SH und BMS, jährlich in Summe um 5.826 Euro. Vollzeitarbeit liegt damit selbst bei einem üblichen KV-Mindestlohn von 1.700 Euro deutlich über der Sozialhilfe und zahlt sich finanziell allemal aus.

SH und BMS beziehen sich zusätzlich auch nie auf Individual-, sondern auf Haushaltseinkommen. Ein niedriges Personeneinkommen aus Teilzeit wird also nicht erhöht, wenn der/die Partner:in im Haushalt ein Einkommen bezieht, das über dem entsprechenden SH-/BMS-Satz liegt. Auch das zur Klarstellung. Dass sich „Arbeit nicht mehr lohnen würde“ ist also mehr Fake statt Fakt.

Was Menschen in der SH und BMS brauchen, sind Hilfe, Unterstützung und Betreuung. „Inaktivitätsfallen“ entstehen dort, wo Menschen nicht ausreichend betreut und begleitet werden. Gibt es einen Betreuungsplan,  ist Inaktivität nicht möglich. Gibt es ausreichend zielgruppenspezifische Kurs-, Schulungs- und Beschäftigungsmaßnahmen mit den entsprechenden Begleit- und Betreuungsmaßnahmen, kommen BMS- und SH-Bezieher:innen rascher in Beschäftigung.

Dazu ist es allerdings auch notwendig, dass die für Sozialhilfe und Mindestsicherung zuständigen Länder auch Maßnahmen setzen, die Aufnahme von Erwerbsarbeit in SH und BMS auch aktiv zu unterstützen bzw. rasch umzusetzen. Was eigentlich auch u.a. das Ziel von Sozialhilfe und Mindestsicherung wäre. Dazu gehört etwa

    • die auf Initiative der Grünen im Sozialhilfe-Grundsatzgesetz ermöglichte Nicht-Anrechnung des 13. und 14. Monatsgehalts auf Leistungen der Sozialhilfe. Würden die Länder diese Maßnahme endlich flächendeckend umsetzen, würde das die Aufnahme einer Berufstätigkeit und damit den Einstieg ins Erwerbsleben natürlich unterstützen – blieb dem/der Betroffenen doch Mindestsicherung bzw. Sozialhilfe und die vollen Sonderzahlungen.
    • Oder der erhöhte Schulungszuschuss für BMS-/SH-Bezieher:innen in AMS-Kursen die länger als 4 Monate dauern. Der erhöhte Zuschuss von rund 220 bis 370 Euro/Monat – analog zu Arbeitslosengeld und Notstandshilfe – für BMS-/SH-Bezieher:innen in AMS-Maßnahmen würde die Betroffenen bei einer entsprechenden Qualifizierungs-, Umschulungs- oder Weiterbildungsmaßnahme finanziell besser absichern und bessere Perspektiven am Arbeitsmarkt geben. Eine Win-win-Situation für alle – die Länder ersparen sich mittel- und längerfristig Ausgaben für SH/BMS, SH/BMS-Bezieher:innen kommen schneller in qualifizierte Beschäftigung, werden finanziell eigenständig. Dass die Länder hier die Umsetzung hinauszögern, ist unverständlich.
    • Zuletzt: Die – auf Initiative der Grünen – Wiederauflage des „Integrationsjahrs“ mit veranschlagten 75 Mio. Euro für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen für Asyl- und subsidiär Schutzberechtigte ist eine zielgruppenspezifische Initiative u.a. die insbesondere Jugendliche SH/BMS-Bezieher:innen über spezifische Qualifizierungen, Weiterbildungen,  Arbeitstrainings u.ä. – unter anderem auch im Bereich zukunftsfähiger „grüner“ Jobs in nachhaltige, gute Beschäftigung raus aus der Mindestsicherung bringen soll. Von derartigen, zielgruppenspezifischen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wird es in Zukunft noch mehr brauchen.

Auch an dieser Stelle sei nochmals erwähnt: Menschen in SH-/BMS-Bezug die arbeiten können, müssen dem Arbeitsmarkt auch zur Verfügung stehen. Werden zumutbare Jobs nicht angenommen, droht eine Kürzung der SH/BMS.

Durchaus überlegenswert wäre auch die Verlagerung von Zuständigkeiten: So könnte etwa die Auszahlung von SH/BMS an arbeitsfähige Personen über das AMS, an ältere Menschen über die PVA, an Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen über die ÖGK erfolgen und für Kinder eine eigene Kindergrundsicherung geschaffen werden. Dazu bräuchte es allerdings Verfassungsänderungen – wohl nicht leicht zu erzielen.

Jedenfalls sinnvoll wäre es auch die Anrechnung von erzielten Erwerbseinkommen auf die Mindestsicherung – zumindest über eine gewisse Zeit – großzügiger zu gestalten. Das würde zusätzliche Anreize für die Aufnahme einer Beschäftigung setzen.

Behauptung 5: Wir können uns Sozialhilfe und Mindestsicherung einfach nicht leisten. Das überfordert die öffentlichen Finanzen!

Auch immer wieder gerne behauptet, hält dem Faktencheck allerdings nicht stand. Denn: Gemessen an allen Sozialausgaben Österreichs (Pensionen, Arbeitslosengeld, Gesundheit …) machen die Ausgaben für SH und BMS gerade einmal 0,7 Prozent, rund 970 Mio. Euro pro Jahr aus. Zum Vergleich: 15,5 Mrd. Euro wurden als COFAG-Hilfen an Betriebe ausbezahlt. Die Zuschüsse für Pensionen aus dem öffentlichen Budget betrugen 2024 16,6 Mrd. Euro, die Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik 9,4 Mrd. Euro, die Ausgaben für Innere Sicherheit und Bundesheer je 4 Mrd. Euro. Nicht einmal eine Mrd. Euro für Sozialhilfe und Mindestsicherung –  das sollte uns Armutsbekämpfung wohl wert sein.

Behauptung 6: Wie kommt die Allgemeinheit dazu, Menschen, die noch nie ins Sozialsystem eingezahlt haben über Jahre hinweg die Sozialhilfe zu finanzieren?

Fangen wir bei zweiterer Behauptung an, nämlich der Dauer des Bezugs. Der Wahrheitsgehalt dieser Behauptung ist überschaubar: Tatsächlich liegt die durchschnittliche Dauer des Sozialhilfebezugs in Österreich bei rund 9 Monaten – von durchschnittlich 6 Monaten in Vorarlberg bis durchschnittlich 9,6 Monaten in Wien. Für den Großteil der Bezieher:innen sind SH bzw. BMS also tatsächlich nur Überbrückungshilfen in schwierigen Lebenslagen und „Sprungbrett“ zurück ins Erwerbsleben. Die Zahl der dauerhaften Sozialhilfe-Bezieher:innen ist gering – hier gehören v.a. arbeitsunfähige Personen, Alleinerziehende und Mehrkindfamilien dazu. Die Erzählung von der hohen Verweildauer in der Sozialhilfe – also auch eher Fake.

Die Frage des „Einzahlens“ ins Sozialsystem – also Erwerb eines Leistungsanspruchs über vorherige Zahlung – stellt sich bei der SH/BMS gänzlich anders als bei Versicherungsleistungen. Weil SH und BMS eben keine solche sind. Während Arbeitslosengeld und Pensionen zum größten Teil über Versicherungsbeiträge und daraus erworbenen Leistungsansprüchen finanziert werden, ist das bei SH und BMS nicht so. SH/BMS werden aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanziert und sind Leistungen, die bei Bedarf – eben bei Vorliegen keines oder eines geringen Einkommens aus Arbeit, Pension, Arbeitslosenversicherung etc. – gewährt werden. Ziel ist die Armutsvermeidung, das Gewährleisten eines existenziellen Minimums, finanzieller Sicherheit für Menschen in Notlagen. Für Menschen, die sonst regelrecht vor dem Nichts stehen, die sonst ohne Gesundheitsversorgung da stehen würden, die mangels entsprechender Ausbildung, Befähigung, Sprachkenntnisse in Formen irregulärer, ausbeuterischer Beschäftigung oder Kriminalität gedrängt würden etc. Finanzielle Sicherheit für Betroffene, mehr Sicherheit für die gesamte Gesellschaft weil so die Ausbreitung von Krankheiten, von Kriminalität, von Ausbeutung wenn schon nicht komplett verhindert, so doch eingedämmt wird. Wie unsere Gesellschaft wohl aussehen würde, gäbe es keine Sozialhilfe? Eben. Abgesehen davon, dass man den zivilisatorischen Entwicklungsgrad einer Gesellschaft am Umgang mit den schwächsten Gliedern einer Gesellschaft erkennt –  die gesellschaftlichen Folgekosten würden wohl ein Vielfaches der aktuellen Ausgaben für Sozialhilfe und Mindestsicherung betragen.

Behauptung 7: Die Sozialhilfe für Kinder gehört gedeckelt! Sonst ist das nur ein Anreiz für kinderreiche Familien, in die Sozialhilfe oder Mindestsicherung zu gehen. Da bekommst Du ja mehr, als wenn du arbeiten gehst.

Fangen wir von vorne an: Mindestsicherung und Sozialhilfe ein Förderprogramm für Großfamilien? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache:

    • Im Jahr 2022 waren 36 Prozent der SH/BMS-Bezieher:innen alleinstehend – also ohne Partner, ohne Kinder.
    • 23 Prozent der SH-/BMS-Bezieher:innen waren Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern.
    • Nur 3 Prozent der SH/BMS-beziehenden Bedarfsgemeinschaften waren Paare mit vier oder mehr Kindern – in Zahlen 3.379 von 103.038 Bedarfsgemeinschaften.
    • Der Anteil der Paare mit vier oder mehr Kindern machte in Wien dabei 3,5 % aus – lag also nur knapp über Bundesschnitt. Der Anteil der Sieben-Kind-Familien lag in Wien mit 0,16 Prozent im Promillebereich.
    • In Absolutzahlen bezogen 120 in Wien lebende Familien mit sieben Kindern Mindestsicherung, davon erzielten 110 Familien neben der Mindestsicherung auch ein Erwerbseinkommen, nur zehn Familien nicht (Sozialminister Rauch sprach in de ZiB 2 vom 6.8. von 10 Familien, ebenso der Wiener Sozialstadtrat Hacker, der Wiener Bürgermeister im Mittagsjournal vom 13.8. von aktuell 13 Familien, Anm.).

Die Behauptung, v.a. kinderreiche Familien – und hier, so die Unterstellung, vor allem „Ausländer:innen“-Familien – würden von SH bzw. BMS profitieren, ist also unrichtig. Mehrkindfamilien sind eine kleine Minderheit und fallen weder zahlenmäßig noch hinsichtlich der Ausgaben ins Gewicht.

Dass eine Mindestsicherung in Höhe von 4.600 Euro/monatlich für eine neunköpfige Familie bei vielen Menschen für Unverständnis und sogar Empörung sorgt, ist auf’s Erste verständlich. Durchschnittliche Arbeitnehmer:innenfamilien mit sieben Kindern – so heißt es – würden durch Arbeit nie ein derartiges Einkommen für ihre Kinder erzielen, das sei in hohem Maße ungerecht. So weit, so nachvollziehbar. Ein zweiter Blick lohnt allerdings und relativiert.

Fakt ist:

    • Für eine Familie mit sieben minderjährigen Kindern liegt die Armutsgefährdungsschwelle bei 5.659 Euro/monatlich. Die Wiener Mindestsicherung liegt also – wie die Sozialhilfe in den anderen Bundesländern auch – unter der Armutsgefährdungsschwelle.
    • Der Wiener Fall ist – wie bereits erwähnt und aus den Zahlen, Daten und Fakten leicht ersichtlich – ein Ausnahmefall. Es ist unseriös, anhand dieses Falles das Mindestsicherungssystem insgesamt grundsätzlich in Frage zu stellen.
    • Die Kosten je Kind liegen laut Kinderkostenstudie der Statistik Austria bei 494 Euro/Monat, unter Berücksichtigung der Inflation der letzten Jahre bei knapp über 590 Euro monatlich. Die Wiener Mindestsicherung mit 312,08 Euro reicht nicht aus, die Kosten eines Kindes abzudecken. Erst gemeinsam mit Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag wird dieser Betrag erreicht.
    • Und: Selbstverständlich stehen auch Arbeitnehmer:innenfamilien mit mittleren Einkommen  bei einer derart hohen Kinderzahl Leistungen aus der Mindestsicherung zu. Auch wenn eigentlich logisch – sonst gäbe es ja keine ihr Einkommen um Mindestsicherung aufstockende Mehrkind-Familien – soll das an dieser Stelle noch einmal bekräftigt werden. Ein/e Alleinverdiener:in bekäme bis zu einem Monatsbrutto von rund 4.600 Euro (zum Vergleich: Das Vollzeit-Medianeinkommen lag 2022 bei 3.418 Euro/Monat) –  Mindestsicherung für seine/ihre Kinder.

Fakt ist allerdings auch:

    • Haushalte mit Kindern, deren Einkommen zwar nicht besonders hoch ist, aber über der Mindestsicherungsgrenze liegt erhalten aus diesem Topf nichts.
    • Haushalte, mit Kindern und einem mittleren Einkommen, das über der Mindestsicherungsgrenze liegt, sind gegenüber Gutverdienenden benachteiligt, weil sie den Familienbonus nicht voll ausschöpfen können.
    • Das Steuersystem setzt – bislang – zu wenig Anreize, die Erwerbstätigkeit auszuweiten, weil sonst Kinderzuschläge aus SH bzw. BMS verloren gingen.

Ja, es gibt Gerechtigkeitslücken. Und die gehören geschlossen. Wenig zielführend ist dabei allerdings eine Diskussion, die auf eine Kürzung oder Deckelung der SH- bzw. BMS für Kinder hinausläuft. Einerseits, weil derartige Kürzungen natürlich zu einem Anstieg von Kinderarmut führen würden – also ausgerechnet jene treffen würden, die zu den „Schwächsten“ in unserer Gesellschaft zählen. Andererseits weil Deckelungen schon einmal vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt worden sind.

Weit sinnvoller ist es, die Frage der Mindestsicherung von Kindern von der Mindestsicherung zu entkoppeln – also eine eigene „Kindergrundsicherung“ einzuführen, die Gerechtigkeitslücken schließt, Erwerbsanreize setzt, eine bedarfsorientierte – also armutsvermeidende – Komponente beinhaltet und auch infrastrukturelle Maßnahmen („Sachleistungen“) umfasst. Unsere Vorschläge dazu:

    • Die Zusammenfassung aller bestehenden öffentlichen Geldleistungen (voller Familienbonus+ für alle Kinder, Kinderabsetzbetrag, Familienbeihilfe) zu einer einzigen, zentral und monatlich ausbezahlten Grundleistung.
    • Um Einkommensgruppen knapp über der Armutsgefährdungsgrenze bzw. über dem Mindestsicherungsbezug nicht durch die Finger schauen zu lassen (also quasi negative Grenzeffekte bei Erwerbstätigkeit zu verhindern), haben wir bereits eine zusätzliche Zahlung von monatlich 60 Euro pro Kind in Haushalten mit Erwerbseinkommen bis etwa 2100 Euro umgesetzt, die ab Juli 2025 dauerhaft erfolgt.
    • Den Ausbau konkreter Sachleistungen für alle Kinder – darunter Freifahrt im öffentlichen Verkehr im Wohnbundesland, kostenfreie ganztägige Betreuung in Schule oder Kindergarten (inkl. qualitativ hochwertigem Mittagessen), Freizeitpass für kostenfreie Freizeitangebote (Sport, Musikunterricht, Hobbies,…), aber auch kostenfreie Lernunterstützung und kostenfreie Teilnahme an Schulveranstaltungen.
    • Dort, wo es notwendig ist, eine eigene haushaltsbezogene Leistung für Kinder in Sozialhilfe/Mindestsicherungshaushalten nach bundesweit einheitlichen Richtsätzen. Wie hoch diese einheitlichen Richtsätze sind, kommt vor allem auf die Umsetzung der vorhergehend genannten Punkte an.

Hier eine neue Mindestsicherung, die Menschen in Notlagen rasch und unbürokratisch unter die Arme greift und mit einem entsprechenden Betreuungs-, Begleitungs-  und Beratungsangebot dabei unterstützt, individuelle Problemlagen zu bewältigen und in Beschäftigung zurückzukehren. Eine einheitliche, österreichweite Grundsicherung mit Mindestsätzen statt Höchstgrenzen, die flexible Hilfe erlaubt und den „Fleckerlteppich“ der schwarz-blauen Sozialhilfe ersetzt.

Da eine davon unabhängige Kindergrundsicherung mit dem Ziel Kinderarmut zu verhindern, jedes Kind finanziell gleich zu behandeln, jedem Kind ein gutes Leben und Chancengerechtigkeit zu ermöglichen.

Ein konstruktiver, ein grüner Beitrag zur aktuellen Debatte.

Linktipp: Mindestsicherungs- und Sozialhilfestatistik 2022